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Priedegten . Homélies  
14. Juni 2015

„Sie sind würdig aufgenommen zu werden“

Predigt von Mgr. Jean-Claude Hollerich, Erzbischof von Luxemburg, zur 30-Jahr-Feier des Schengener Abkommens

Als am 14. Juni 1985, also vor genau 30 Jahren, das Schengener Abkommen unterzeichnet wurde, waren 5 um den Tisch versammelt, oder genauer, es waren 3 + 2: die drei BeNeLux-Staaten drängten bereits 1984 auf eine Ausweitung der Bewegungsfreiheit und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Zoll- und Polizeibehörden. Dann kam das Saarbrücker Abkommen, das im Juli 1984 zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossen wurde und das die progressive Auflösung der Grenzkontrollen vorsah.

Wenn man den historischen Erzählungen glauben kann, dann hat wohl alles mit einem konkreten Problem seinen Anfang genommen und zwar die langen Wartezeiten der Fernfahrer an der Grenze in Kehl. Diese provozierten beim damaligen deutschen Kanzler Helmut Kohl eine spontane Reaktion. Wie so oft im Laufe des europäischen Aufbaus, war die Lösung eines spezifischen Problems der erste Schritt zu einer viel weiter gefassten Integration. Das Schengener Abkommen, sowie das wichtige Übereinkommen zur Durchführung der Konvention, das fünf Jahre später im Juni 1990 abgeschlossen wurde, hätten nicht ohne eine doppelte Intuition der Europäer umgesetzt werden können.

Da gab es zuerst den alten Traum eines Europa ohne Grenzkontrollen. Dieser Traum führte bereits in den 50ger Jahren zu einem Beitritt zu den Römischen Verträgen von 1957. In Wirklichkeit war es eher die Perspektive, in Zukunft ohne Reisedokumente Grenzen überschreiten zu können, als die Vision eines gemeinsamen Marktes, der die europäischen Geister bewegte.

Dann, nach der Zeit des Kriegsrechtes in Polen in der Zeit von 1981 bis 1983, entsprach es sicher dem Zeitgeist, im Bereich der Bewegungsfreiheit voran zu kommen, dies auch, um den Mangel an gerade dieser Bewegungsfreiheit und der Menschenwürde in Zentral- und Osteuropa unter dem Einfluss des Kommunismus stärker ins Bewusstsein zu rücken.

Dennoch war Schengen der Beginn einer Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit. Die Grenzkontrollen an den inneren Grenzen aufzuheben verlangte nach einem ganzen Paket von gemeinsamen Regeln zur Überschreitung der äußeren Grenzen der Staaten, für Asyl- und Immigrationsfragen und für die Ausstellung von Visa. Ließ man die freie Bewegung innerhalb eines bestimmten Raumes zu, verlangte dies auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Polizeiwesens und der Justiz.

Diese Harmonisierung der Regeln zum Grenzübertritt im Falle von Immigration und von Asylsuche ist im Schengener Raum zumindest nicht abgeschlossen, auch wenn die Anzahl der Mitglieder von 5 auf 26 gestiegen ist. Diese Staaten bleiben derzeit noch an ihren Vorrechten kleben. Sie vertrauen einander nicht. So gab es im Jahr 2011 den Plan, an den Grenzen Dänemarks die Grenzkontrollen wieder einzuführen. Im gleichen Jahr plante die französische Regierung die Grenzen für Migranten aus den nordafrikanischen Staaten zu schließen um somit auf die Absicht der italienischen Regierung zu reagieren, eine Aufenthalts-genehmigung an 25.000 tunesische Einwanderer auszustellen. Bestimmte Länder der Union nehmen nicht oder nur teilweise am Schengener Raum teil. Sie möchten die Möglichkeit wahren, aus dem Abkommen auszusteigen oder wieder einzusteigen. All dies vermittelt den Eindruck eines gewissen Durcheinanders, das auf Unverständnis oder gar Ablehnung stößt. Und doch ist und bleibt Schengen ein Geschenk an die Völker Europas, die sich frei innerhalb eines weiten Raumes bewegen können. Nun bleibt Schengen - auch nach dreißig Jahren - ein ungeschliffener Rohdiamant, den es zu vervollkommenen gilt.

Nun, mit den Schengener Abkommen ist es ein bisschen wie mit dem Euro. Die Staaten freuen sich, ihre Bürger in den Genuss der wirtschaftlichen Vorzüge oder jene der Bewegungsfreiheit kommen zu lassen, sie sträuben sich hingegen den zweiten Schritt nach dem ersten zu tun, einen Schritt, der nötig für das Gleichgewicht wäre. Die Ablehnung der Notwendigkeit dieses zweiten Schrittes ist für mich der wahre Grund für das derzeitige europäische Unbehagen.

Im Fall der Währungsunion erklären die Regierungen in ungenügender Weise, dass der Euro ohne ein gewisses Maß an Föderalisierung des Budgets auf europäischer Ebene weiterhin mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, denn die verschiedenen Fassungen des Stabilitätspaktes sind nicht verbindlich genug. Sie basieren schlussendlich immer auf dem guten Willen einer Regierung, sich an ein Versprechen zu halten, auch in Zeiten von Wahlen.

Im Schengener Raum ist die Situation vergleichbar. Nehmen wir das Thema Asyl. Die Dublin-Verordnung (Dublin II), die die Verfahren um gestellte Asylanträge regelt, basiert auf dem guten Willen aller, Anträge im dem Land zu prüfen, in den der Asylbewerber zuerst eingereist ist. Dies funktionniert allerdings nicht. Man muss also einen Schritt weiter gehen und den zweiten Schritt machen. Nun ist es so, dass zum Zeitpunkt der 30-Jahr-Feier des Schengener Abkommens die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Migrations-Agenda innovative Vorschläge vorgelegt hat, die - auch wenn sie sich derzeit nur auf Notsituationen beschränken - in sich doch das Potential bergen, mit der gängigen Praxis, den zweiten Schritt zu verweigern, zu brechen. Dies bezieht sich insbesondere auf die mögliche Einführung eines neuen Modells, das eine solidarischere Verteilung der Antragsteller auf die Mitgliedsstaaten vorsieht.

Es hängt nun alles davon ab, wie die einzelnen Staaten die Vorschläge aufnehmen werden. Morgen und übermorgen werden ihre Vertreter, die Innenminister, sich in Luxemburg treffen, um über die Agenda zu beraten.
Als Bürger und als Bischof möchte ich sie dazu aufrufen:

Lassen Sie sich vom Geist inspirieren, der vor 30 Jahren am 14. Juni 1985 hier in Schengen geherrscht hat.

Lassen Sie sich von diesem Versprechen von mehr Freiheit inspirieren, das Bewegungsfreiheit nicht nur für die Europäer bedeutet, sondern für alle - einschließlich für jene, die in ihren Ursprungs-Ländern unterdrückt und verfolgt werden.

Nehmen Sie es sich zu Herzen ein rechtes Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen legitimen Anfragen um bei uns in Sicherheit leben zu können und den Hilferufen jener, die in der Unsicherheit ihrer von Bürgerkrieg betroffenen Ländern um ihr Leben fürchten müssen, zu finden. Diese Menschen haben ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Sie sind würdig aufgenommen zu werden.

Nehmen Sie die Agenda der Europäischen Kommission zur Migration mit Wohlwollen auf.

Akzeptieren Sie nicht, dass das Mittelmeer - das Unser aller Meer ist, das Mare Nostrum, das Taufbecken unserer Zivilisation - zum großen Friedhof wird, wie Papst Franziskus uns gewarnt hat.

Suchen Sie eine solidarische Lösung unter sich, zwischen Ihren Ländern, um Menschen auf der Flucht und Menschen, die Asyl beantragen, aufzunehmen. Auch wenn dies nicht alle Fragen löst, so ist es eine Vorbedingung um einen Schritt weiter zu kommen.

Die Europäische Union kann sich nicht für Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität in der Welt einsetzen, wenn Ungerechtigkeit, Zwietracht und nationale Egoismen zwischen den Mitgliedsstaaten vorherrschen. Eine Einigung über einen neuen Verteilmechanismus kann zum Ausgangspunkt für ein neues europäisches Asylsystem werden mit einem einheitlichen Entscheidungsablauf, für eine europäische Verwaltung unserer Grenzen und für legale, menschlichere und angepasstere Formen der Migration.

Schließlich möchte ich als Präsident der Kommission Justitia et Pax einen feierlichen Appel an unserer Staats- und Regierungschefs richten, damit sie ein starkes politisches Signal für die Unterstützung des Vorschlags der Europäischen Kommission zur Migrationspolitik senden und dem ein weiteres Signal hinzufügen: jenes, die Tendenz im Bereich der Entwicklungshilfe umzukehren und Wort zu halten, was die Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des BIP bis 2020 angeht. Nur eine verschwindend kleine Gruppe von Staaten ist auf dem besten Weg dieses Versprechen einzulösen, unter anderem jenes, das die Schengener Konferenz bei sich beherbergte und dessen Erzbischof ich die Ehre habe zu sein.

Erlauben Sie mir eine Verbindung zwischen Migration und der Armut und dem Elend in der Welt herzustellen. Es ist illusorisch zu glauben, dass ohne eine substantielle Verbesserung der Situation der armen Länder der Migrationsdruck abnähme. Ohne die Perspektive, ein Leben in Würde leben zu können, werden junge Menschen auch weiterhin ihre Länder verlassen. Nun lebt 1/7 der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag, 1/8 leidet Hunger, 1/3 hat keinen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.

Wir sind verpflichtet, diesem notleidenden Teil der Weltbevölkerung eine Lebensperspektive zu eröffnen. Es ist im Übrigen keine Frage der Zweckmäßigkeit dass wir diesen Menschen Hilfestellung geben müssen. Die menschliche Würde existiert für manche nicht. Sie ist unteilbar, sie kommt jedem zu, insbesondere jenen, die große Entbehrungen erleiden.

Die zweite Hälfte dieses Jahres wird in der Welt ein Halbjahr für die Entwicklung sein. Drei große Konferenzen werden hierzu in den nächsten 6 Monaten stattfinden.

Ich bitte Sie innständig um Ihr Gebet für ihren Erfolg, denn ihr positiver Abschluss wird ein Hoffnungszeichen für die Menschheit sein und die Zukunft unseres Planeten wird davon abhängen.

Verfolgen Sie also mit besonderer Aufmerksamkeit die Konferenz zur Finanzierung der Entwicklung, die im Juli in Addis-Abeba stattfindet, die Vollversammlung der Vereinten Nationen im September zur Überwindung der Armut und für nachhaltige Entwicklung und die Konferenz in Paris im Dezember zum Welt-Klima-Abkommen.

Mgr. Jean-Claude Hollerich, Erzbischof von Luxemburg
Schengen – 14.6.2015 – Übersetzung der französischen Originalfassung
Es gilt das gesprochene Wort

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