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Jahr A (2019-2020)  
20. Juni 2020

Fürchtet euch nicht!

Kommentar von Henri Hamus (21.06.2020)

Von den Brüdern Grimm gibt es das „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Wir brauchen kein langes Suchen, um zu erfahren, was weltweites Fürchten ist: der Corona-Virus hat uns aufgescheucht - und wohl erst die ergriffenen beherzten Maßnahmen haben uns das ganze Ausmaß der Gefahr erkennen lassen. Plötzlich war jeder gemeint, nicht nur die anderen, wie bei den meisten sonst auftretenden Krisen und Seuchen! Jeder, ich kann angesteckt werden! Bemerkenswert ist, dass wenn ich mich an die Schutzmaßnahmen halte, dies zuerst andere vor Ansteckung schützt!

Dem allgemeinen Fürchten setze man großflächig Kontaktverbote, Grenzschließungen, Maskenpflicht, Versammlungsverbote usw entgegen. Auch die Kirchen haben sich den Schutzbestimmungen angeschlossen: alle öffentlichen Gottesdienste wurden untersagt bzw. den strengen Gesundheitsvorschriften unterworfen. Die Gläubigen wurden von der Sonntagspflicht entbunden, zumindest was den Messbesuch betrifft. Zurzeit werden die vielen Verbote progressiv aufgehoben – und es kehrt wieder langsam die Normalität ein. Oder müssen wir uns davor fürchten, dass die Menschen jetzt wieder sorgloser mit der bleibenden Virusgefahr und den Mitmenschen umgehen?

Was heißt hier Normalität?

Wird wieder alles so sein wie vor dem 15.März? Nach dem Nine-Eleven, dem 11. September 2000 meinten nicht wenige, dass danach nichts mehr so sein werde wie vorher: es kam anders, nach dem Schrecken kehrte man sehr schnell zur Tagesordnung zurück, zumindest in unseren Breiten – für den Nahen Osten allerdings gab es neue Schrecken, die bis heute andauern!

Wohl die meisten erwarten, dass möglichst schnell das sogenannte Normale wiederkehrt. Vielen geht es gar nicht schnell genug: déconfinement, uneingeschränktes Einkaufen, Café- und Restaurantbesuche, Grenzöffnungen, Reisemöglichkeiten – schließlich steht die Urlaubssaison vor der Tür! Halten wir es einfach mit dem Mainzer Fastnachstschlager: „Heile, heile Gänsje, es is bald widder gut“– oder?

Menschsein

An diesem Sonntag ruft uns Jesus im Evangelium gleich dreimal zu: „Fürchtet euch nicht!“ Und er meint sicher nicht, dass alles gleich wieder gut wird. Im Gegenteil: es gibt Grund sich zu fürchten; er benennt klar und deutlich den einzigen Grund. Er spricht von der größten aller Gefahren: vom möglichen totalen Verderben des ganzen Menschen! Er warnt vor dem, was den Menschen an Leib und Seele zerstört. Albert Schweitzer hat einmal in einer Predigt Jesus diese Worte in den Mund gelegt: „Aufs erste gebt mir acht, dass mir der Mensch nicht zugrunde geht. Geht ihm nach, wie ich ihm nachgegangen bin, und findet ihn da, wo die anderen ihn nicht mehr finden, im Schmutz, in der Vertiertheit, in der Verachtung, und tut euch zu ihm und helft ihm, bis er wieder ein Mensch ist“.

Die letzten drei Monate haben uns gewiesen, wie Menschsein geht: Solidarität, Familienleben, Nachbarschaftshilfe, uneigennütziges Dasein und Singen für andere, Dankbarkeit für die oft übersehenen Dienste und Pflegenden, Aufmerksamkeit und Opferbereitschaft – in der Kirche wurden neue Formen des Miteinanders und pastorale Initiativen entwickelt: Gebetsketten, gemeinsames Beten per Internet, Internetexerzitien, Oktave per Fernsehübertragung, Worte zum Tag per Email und vieles andere mehr.

Es wäre mehr als schade, wenn beim Übergang zur Normalität diese Erfahrungen und neue Aussichten verloren gingen, wenn die Normalität einfach Rückkehr in den alten gewohnten Trott bedeuten würde - schlimmer: wenn das erfahrene und gelebte Mehr an Menschsein wieder verloren ginge!

Glauben – den Himmel offen halten

Zurzeit hält die Wirtschaft uns in Atem. Milliardenhilfspakete werden geschnürt, um Menschen Lohn und Brot zu garantieren! Oder wird soviel Geld in die Hand genommen, um möglichst bald wieder in den Modus des ungebremsten Wachstums zurückzukehren? Die von Covid-19 aufgezwungene Entschleunigung war hoffentlich mehr als nur eine negative Episode, die so schnell wie möglich überwunden und vergessen werden soll! Statt immer mehr Wachstum wird hoffentlich Platz für mehr Menschlichkeit, für mehr Naturschutz, mehr Alternativen bei Mobilität, Konsum und Energieverbrauch: es ist möglich – die letzten Monate haben es bewiesen.

Was bedeutet das für uns Christen und die Kirche? Ist wieder alles in Ordnung, wenn wieder normal Messen gefeiert, Kranke besucht, Sterbende begleitet, Kinder katechetisiert und Tote begraben werden können? Der Mensch braucht diese Riten und Ausdrucksformen, um seinen Glauben zu leben. Er braucht aber vor allem den, dem er glauben kann: Gott! Er braucht den, der ihn vor dem Verderben und Untergang seines Menschseins bewahren kann. Er braucht den, der ihm auch in den größten Widerwärtigkeiten Hoffnung und Erfüllung schenken kann.

In den vergangenen Monaten gehörten Religion und Glaube im öffentlichen Diskurs nicht zu den relevanten Gesellschaftsaktivitäten! Für uns Christen ist es sehr wohl relevant, dass wir miteinander Glauben teilen und feiern! Und wir dürfen sehr wohl unseren Schmerz sagen – und bekunden, dass uns daran liegt, auch über den Menschen von heute den Himmel offen zu halten: es gibt mehr als Normalität – es gibt das Beglückende, Mensch zu sein, miteinander und mit dem Ausblick ins Unendliche. Unser Gebet am Nationalfeiertag ist auch Ausdruck der gereichten Hand für ein gutes und konstruktives Miteinander, damit der Mensch nicht zugrunde geht, nicht an Leib und auch nicht an Seele.

Alles andere, auch eine Kirche, die sich in Zukunft nicht erneuert diesem Auftrag stellt, wäre Grund zum Fürchten!

Henri HAMUS
henri.hamus@cathol.lu
 
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