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Jahr B (2017-2018)  
10. November 2018

Fürchte dich nicht

Der Kommentar zum 32. Sonntag im Jahreskreis von Winfried Heidrich (11.11.2018)

Sowohl im Text aus dem Ersten Buch der Könige als auch im Evangelium des Sonntags wird jeweils von einer armen Witwe berichtet, die das Letzte gibt, was sie hat. Die eine teilt ihr weniges Essen, die andere gibt ihre „zwei letzten Münzen“; beide leben ohne soziale Absicherung. Sie wissen, was Armut heißt. Die Erzählungen über die kleinen Leute in der Bibel lesen sich wie Konkretisierungen der Bergpredigt: teilen, besuchen, kleiden, zuhören. Und es sind in beiden Texten vom Sonntag wie so oft die kleinen Leute, die solidarisch und gastfreundschaftlich sind. Die Bibel lenkt ihr Augenmerk immer wieder auf die Belange von Gerechtigkeit, Solidarität, Nächstenliebe. Der Fokus in den Ethiken der Heiligen Schrift liegt weniger in den Verfehlungen unterhalb des Bauchnabels als vielmehr in ihren kritischen Betrachtungen ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse, die zu Armut und Unfrieden führen.

In der Interpretation des Neuen Testaments und in der Nachfolge Jesu benennen die „Ökumenischen Versammlungen“ von Basel (1989) und Graz (1997) Themen der Welt: Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Versöhnung. Der Gedanke, dass „das Wort Fleisch geworden ist“ (Joh 1, 14), dass Gott Mensch geworden ist und unter uns wohnt, stellt den Glauben von Christen auf praktische Füße: bewusste Ernährung, gewaltfreie Sprache, Unterricht für Flüchtlinge, korrekte Steuererklärung, Autofasten. „Nur in den Reaktionen unseres Lebens kann die ganze Kraft unserer Wahrheit liegen“, schreibt Paul Valéry. Dietrich Bonhoeffer bezeichnet dieses Tun als „religionsloses Christentum“.

Die säkular gewordene Welt ist auch hierzulande gottlob befreit von früherer kirchlich-religiöser Bevormundung. Infolge dieser Errungenschaft werden jedoch unsere jüdisch-christlichen Wur-
zeln geleugnet beziehungsweise ins Private abgedrängt. So entsteht als neuer Fortschrittsglaube ein spirituell entleertes Land: „Die Geschichten aus dem Evangelium lagen über dem abweisenden Land wie Zeitungen auf einem gebohnerten Fußboden. Sie rutschten, sie glitten zur Seite, sie verbanden sich nicht mehr mit dem, was unter ihnen war.“ (Peter Carey) Unsere Welt hat sich nicht befreit von Leid, von Ungerechtigkeit, von ihren Anmaßungen, die – nunmehr säkular – weiter gewachsen sind. Die Welt scheint gefangen im Hamsterrad von Gewinnmaximierung, gebunden an Blicke auf Reichtum und Macht. Sie hat sich in eine Lage „hineinfinanziert“ (Joseph Vogl), aus der sie mit ihrer eingeschränkten Wahrnehmung von gelungenem Leben, geschweige von einem sozialen Miteinander, mit ihren Mitteln alleine nicht mehr herausfindet.

Es gibt einen kleinen Satz in der Lesung im Buch der Könige, den der Prophet Elija zur Witwe sagt, den man schnell überhört: „Fürchte dich nicht!“ Welch ein Satz der Ermutigung. Zu uns gesprochen könnte er lauten: „Fürchte dich nicht zu verzichten. Vertraue darauf, dass es Leben und Gewinn gibt, die nicht von ,dieser Börse‘ sind.“ Kann Verzicht Platz frei machen, um anderes zu entdecken? Sind Botschaft und Ethik der Bibel schon zu Ende erzählt? Leuchtet Christentum nur auf weihnachtlichen Glanzbildchen? Es gibt auch in Luxemburg viele Menschen, die zu Recht um ihre materielle Sicherheit besorgt sind oder gar in Armut leben. Doch für die auf der abgesicherten Seite derselben Medaille stellten sich Fragen des Teilens: Hat die Verwaltung unseres materiellen Reichtums uns immer noch nicht enttäuscht genug gemacht als dass wir nicht wieder neugierig werden könnten, Hunger hätten, die Welt neu und anders zu lesen? Und im Großen: Welches politische Konzept hat das Teilen auf seine Fahne geschrieben?

Quelle: Luxemburger Wort

Winfried HEIDRICH
 
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