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Jahr C (2015-2016)  
24. November 2018

„Das, was immer wahr ist, ist gerade heute nicht wahr“

Der Kommentar zum 34. Sonntag im Jahreskreis von Winfried Heidrich (25. November 2018)

Viele der Dogmen und Lehrschreiben, auf denen unsere Kirche steht, modern vor sich hin wie Holzpfähle im Unterbau von Venedig. Spezialisten der Kirche haben sich ihrer Erhaltung und Sanierung verschrieben. Interpretationen zu alten Texten werden wie Implantate in lehramtliche Fundamente gesetzt. Alles muss ewig gültig bleiben und wird: gleichgültig. Glaube, hoch aufgetürmt zum belastenden und wankenden Besitz.

Es wird weiterhin ein Verlangen vieler Menschen in der katholischen Kirche nach einer traditionellen religiösen Orientierung geweckt und bedient, die von Verboten flankiert ist: keine Weihe für Frauen, keine Segnung Homosexueller, keine Sakramente für Wiederverheiratete, keine künstliche Verhütung, kein gemeinsames Abendmahl von katholischen und evangelischen Christen. Ein strenger Glaube, der nicht nur Taten, sondern Menschen ausschließt. Wann, fragt sich, gehört für die Kirche zur Vergänglichkeit allen irdischen Daseins, auch eigene zeitbedingte Wahrheiten zu begraben?

Die Wahrheit, von der Jesus in den Evangelien spricht, wurde im Laufe der Zeit immer unkenntlicher je mehr sie lehramtlich beschrieben wurde: die Einheit von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe. Sprich, die Liebe zur sinnlichen Welt und die Leidensfähigkeit in und an ihr. Und dort womöglich: Gotteserfahrung. Im Evangelium vom Sonntag steht Jesus vor Gericht mit seinem „Wahrheitsprogramm“: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Ein Zeugnis (martyria), in den „Sand geschrieben“ (Joh 8, 6), gerichtet an Menschen in konkreten Situationen: den blinden Bartimäus, die Ehebrecherin, Zachäus auf dem Baum, die Frau mit dem Nardenöl, den untergehenden Petrus, die Samariterin am Brunnen.

„Das, was immer wahr ist, ist gerade heute nicht wahr“, schreibt 1943 (!) der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Die Wahrheit findet hier und jetzt statt, wenn Glaube Zeugnis ist und Relevanz hat. „Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich, indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt“, so Bonhoeffer. Wahrheit bleibt für ihn „in tiefer Diesseitigkeit“ an den Zusammenhang von Gott, Welt und Mensch gebunden. Der Begriff der Wahrheit bei Bonhoeffer ist wandelbar, doch nie beliebig oder individualistisch eingeengt. Er steht fern jeder „Diktatur des Relativismus“ (Joseph Ratzinger). Aufgabe der Kirche ist es nicht, die Welt zu „verchristlichen“, sondern „mitten in der Welt den Raum frei halten für Gott“. Dieses Tun der Kirche nennt Bonhoeffer „Wegbereitung“.

Wie Sprache Realitäten schafft, erleben wir heute in privater wie öffentlicher Kommunikation. „Alternativlos“ nennt sich politisches Handeln und ignoriert Einwände. Flüchtlinge werden schamlos als „Asyltouristen“ diffamiert. Sprache trägt zu Verrohung bei, Sprache lenkt, Sprache stiftet Beziehung, Sprache verschleiert, Sprache gibt dem Leben Tiefe und Sinn. Wenn die Kirche mit ihren Lehrtexten zum Leben der Gläubigen und zur Gestaltung der Welt weiter beitragen will, muss sie die „Wahrheiten“ dieser Texte befragen lassen. Ihre Texte stehen zudem unter eschatologischem Vorbehalt: Vielleicht sieht Gott es anders. Doch spricht die Kirche immer noch eine Sprache von oben herab. Sie fürchtet – auf Augenhöhe mit den Menschen – den Überblick über die Welt und sich selbst zu verlieren.

Seinen Tod vor Augen, fasst Jesus mit dem Satz „Ich bin in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“, sein Leben zusammen. Diese Wahrheit lässt sich, so sie einen angeht, nur durch das eigene Leben begreifen und zu eigen machen.

Quelle: Luxemburger Wort

Winfried HEIDRICH
 
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