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9. Juni 2022

Was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab

Kommentar zum Dreifaltigkeitssonntag von Winfried Heidrich (12.6.2022)

Im heutigen Sonntagsevangelium ist von Wahrheit, ein Schlüsselbegriff bei Johannes, die Rede. Die Wahrheit „kommt“ zu uns und wird uns „führen“, heißt es da (Joh. 16,13). Die Wahrheit ist also nicht statisch, sie ist unterwegs und inkarniert, verlebendigt sich immer neu in die Welt (Joh. 1,14). Wahrheit bleibt johanneisch gesprochen immer bei Gott. Sie entzieht sich institutioneller Vereinnahmung und dogmatischem Besitz. Gerade weil sie inkarniert sind, sind christliche Wahrheiten zerbrechlich, können absterben und anders neu erblühen. „Das theologische Denken schwebt nicht über den Dingen und es ist auch nicht in Besitz sogenannter ewiger Wahrheiten. Das Arbeitsfeld der Theologie liegt inmitten der modernen, säkularisierten Welt von heute, in der Krise des Fortschritts-Prozesses.“ (Tiemo Rainer Peters)

Die katholische Kirche bleibt der Überzeugung treu, eine ihr von Gott offenbarte universale und ewige Wahrheit hüten zu müssen. Sie hat ein „Wahrheitsregime eingeführt, das aus einem Korpus von Doktrinen besteht, verbunden mit Wahrheitsakten, die den Gläubigen unreflektiert abverlangt werden.“ (Michel Foucault) Wir denken an Erbsünde, Jungfrauengeburt, Unfehlbarkeit, um nur einige zu nennen. Die Kirche will dieses in der Spätantike und im Mittelalter entwickelte dogmatische Glaubensmodell in die Jetztzeit retten, denn mit dem Zerfall ihres Modells - der längst stattfindet - würde ihre kirchliche Macht zu Ende gehen. Sie weiß um ihr Dilemma: Machterhalt oder offene Fragen nach der Wahrheit, ohne dogmatische Fangnetze. Der Beichtstuhl - ne pas toucher - Relikt einer Zeit, in der die Wahrheitsbehauptung der Kirche noch unwidersprochen war, wird immer häufiger zum Ort der Aufbewahrung von Vasen, Fahnen und Faltblättern. Und die Kirche gerät immer tiefer in Erklärungsnot, ringt um neue Worte und Gesten - auch dort, wo es gilt, sich von überholten Inhalten zu verabschieden.

Dringlicher als je zuvor stellen sich existenzielle Fragen nach der Wahrheit des Menschseins angesichts der Angst um die Zukunft der Welt. Menschen, persönlich und strukturell in Schuld und Versäumnis verstrickt, suchen Vergebung jenseits der Willkür menschlicher Justiz und brauchen Orientierung für gerechtes Handeln. - Die populären Götter heutiger Bühnen und Stadien lehren uns nichts. - Schon auf den ersten Seiten der Bibel sind die Wahrheiten der Menschen unvergesslich und offen erzählt: die Scham des Nacktseins, die Mühsal der Arbeit, die Schmerzen der Geburt, der Neid unter den Geschwistern, die Erkenntnis von Gut und Böse, die Vernichtung durch die Sintflut, der Mensch als Partner Gottes: „Adam - Mensch - wo bist du?“ (Genesis 3,9) Über Wahrheit sprechen auf den Wegen von Fragen. Was ist wahr? „Aus der Frage nach dem wahren Glauben wird unter modernen Bedingungen immer häufiger die Frage nach der Glaubwürdigkeit.“ (Daniel Bogner)

„Was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.“ schreibt Ingeborg Bachmann. Und weiter: „doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand. Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten, dem unbekannten Ausgang zugewandt.“

Winfried HEIDRICH
 
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