Annette Jantzen: Das Kind in der Krippe. Die Weihnachtsbotschaft – entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt.
Religiöses Buch des Monats Dezember 2024
Alle Jahre wieder weist im Krippenspiel ein Wirt die hochschwangere junge Frau und ihren Begleiter ab. In manchen Varianten bietet er ihnen einen Platz im Stall an, außerhalb von Bethlehem. Auch viele Bilderbücher erzählen die Weihnachtsgeschichte so. Doch was, wenn Lukas eine ganz andere Geschichte erzählt hat, die aber über Zeiten und Kulturen hinweg anders verstanden wurde und wird, als Lukas‘ Zeitgenossen sie gehört haben? Die Theologin Annette Jantzen hat sich gängige Motive wie Jungfrauengeburt, Engel und Krippe aus den Weihnachtsgeschichten der Evangelisten Matthäus und Lukas vorgeknöpft und sich gefragt, wie deren erste Hörer*innen sie wohl verstanden haben.
Im Eingangskapitel stellt sie grundlegenden Einsichten aus der theologischen und religionswissenschaftlichen Forschung zusammen und macht klar: Matthäus und Lukas erzählen nicht, wie es wirklich gewesen ist. Das konnten sie nicht – und das war auch nicht ihre Absicht. Die beiden „Weihnachtsgeschichten“ sind keine Reportagen, sondern Literatur, Erfindungen, mit denen die beiden Autoren vermitteln wollten, wer dieser Jesus von Nazareth für sie und für die ersten Jesusgläubigen gewesen ist. Sie verwendeten dazu gängige Motive ihres Kulturraumes und natürlich aus der Hebräischen Bibel.
Eines dieser Motive ist die bis heute unter den christlichen Kirchen und über sie hinaus in unserer naturwissenschaftlich und (angeblich) rational geprägten Kultur umstrittene Jungfrauengeburt. Jantzen bezeichnet sie mit Blick auf den religionswissenschaftlichen und exegetischen Befund als „Einhorn der Antike“. Jungfrauengeburten gehörten zum kulturellen Bilderbestand der Antike, der sie als ein so reales Phänomen kannte wie wir heute Einhörner. Die Autoren der Weihnachtsgeschichten konnten damit in Worte fassen, „dass es einen wirklichen Neuanfang geben kann, dass es Beziehungen ohne Besitzverhältnisse geben kann, dass in einem Menschenleben wirklich Gottes Gegenwärtigkeit aufleuchten kann.“
Ein anderes Kapitel gilt der Krippe, die heute nicht ohne Stall und nicht ohne einen Wirt gedacht werden kann. Das Schlüsselwort für unser kulturelles Verständnis ist „Herberge“. Jantzen erklärt, dass es zur Zeit des Lukas damit etwas völlig anderes auf sich hatte, als wir heute annehmen, und schreibt eine „Ehrenrettung für den Wirt“. Nur so viel sei verraten: Lukas hat keine Geschichte der Ausgrenzung geschrieben, sondern eine von Solidarität und Geborgenheit.
Annette Jantzen erschließt die ersten Kapitel der Evangelien nach Matthäus und Lukas neu, griffig, mit Witz und theologisch nicht ohne Anspruch. Menschen, die sich mit der herkömmlichen Lesart der Weihnachtsgeschichten schwertun, finden hier einen hilfreichen Zugang, theologisch und historisch Neugierige sowieso. Allerdings wird es nach der Lektüre auch schwieriger sein, die vertrauten Szenen an der Krippe und in Krippenspielen so zu belassen. Wer schreibt die „Herbergssuche“ noch um?
Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der Sankt Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.